C. S. Rinke

Erzählungen eines Vampirs

... wie alles begann

Leseprobe:

Kapitel 1
Was wäre, ...
... wenn deine Vergangenheit schon lange Geschichte ist?
Was wäre, ...
... wenn deine Zukunft tatsächlich schon Gegenwart ist?
Was wäre, ...
... wenn die Geschichte deiner Zukunft bereits in der Vergangenheit Gegenwart war?
Was wäre, ...
... wenn dein Leben lange genug währte, um all dies zu erzählen?
Ja, was wäre wenn ...?
Eine Frage, die wir uns wohl alle schon einmal gestellt haben. Aber hat je ein Fragensteller auch eine zufriedenstellende Antwort darauf erhalten? Keine Bange, ich will hier keine philosophische Diskussionsrunde einleiten, nein, ich habe diese Worte aus einem gänzlich anderen Grund gewählt. Mit eben jenem Wortspiel begann einst mein allererster Roman, und auch die Geschichte, die ich Ihnen im Folgenden erzählen möchte, könnte nicht treffender eingeleitet werden. Und wer weiß, vielleicht findet sich am Ende diesmal doch eine Antwort? Vorab sollte ich Ihnen aber ein wenig über mich erzählen, besser gesagt Ihnen erklären, warum und wieso mir gerade diese Geschichte so am Herzen liegt.
Man nennt mich Nicolas Arantes, ich bin Schriftsteller, Literat, Poet, Autor - über die Jahre hinweg habe ich so viel Unterschiedliches verfasst, dass es mir schwerfällt, eine wirklich treffende Berufsbezeichnung zu finden. Aber im Endeffekt macht es auch keinen relevanten Unterschied, läuft doch sowieso alles auf dasselbe hinaus: Seit ich mich zurückerinnere, war das Schreiben meine größte Leidenschaft!
Zu Beginn meiner Laufbahn war mein Schaffen jedoch der Vergangenheit verschrieben. Ich verfasste vornehmlich geschichtliche Abhandlungen, historische Enzyklopädien - alles, was sich mit längst Vergangenem beschäftigte, brachte ich zu Papier. Später habe ich mich sogar an Reiseberichten, Natur- und Tierstudien versucht. Wie schon erwähnt, ich habe sehr viel ausprobiert - bis ich eines Tages mit dem Mythos Vampir infiziert wurde!
Ebenfalls ein uraltes Thema, und ich war gewiss nicht der Erste, der sich daranmachte, ein Buch darüber zu schreiben, doch mein Interesse war geweckt.
Was mich persönlich aber daran faszinierte, war nicht der Mythos an sich, sondern vielmehr die unerklärliche Leidenschaft, welche die halbe Menschheit diesem Thema entgegenbrachte. Über Jahrhunderte hinweg reagierte man mit Angst, Faszination, ja sogar Besessenheit und okkultem Fanatismus auf dieses Thema. Schließlich inspirierte mich die Beobachtung dieses merkwürdigen Verhaltens, einen Roman darüber zu verfassen: über das Aufeinandertreffen von Vampir und Mensch.
Nun, seit jenem Tag sind viele, viele Jahre vergangen. Meine Vampir-Romane erfreuen sich größter Beliebtheit, und auch ich bin des Themas noch nicht überdrüssig geworden. Wenngleich ich den Tumult, der vielerorts um mich als Autor entsteht, nicht ganz nachvollziehen kann.
Meine Romane, nun gut, ich muss gestehen, die Leute verzehren sich förmlich danach, was mich natürlich auch mit Stolz erfüllt. Es freut mich, wenn meine Bücher zur Freude anderer beitragen. Doch ich, ich bin lediglich der geistige Vater meiner Figuren - von jeglichem Heldentum so weit entfernt, wie man sich nur vorstellen kann.
Dennoch tauchen ganze Fanscharen auf, wenn es mein Lektor einmal in hundert Jahren schafft, mich zu einer Buchpräsentation oder anderen Werbefeldzügen zu überreden. 'Sie wissen doch, wie wichtig das ist ...Ihre Fans lieben nun mal nicht nur Ihre Bücher, sondern auch Sie ...' ... Aber warum nur? Was soll dieser Kult um meine Person?
Also die wenigen, die mich kennen, wissen, dass ich zur Gruppe der kategorischen Einzelgänger zähle. Ich lebe fernab der Massen, meine einzigen Nachbarn sind die Wildtiere der Umgebung, und auch sonst halte ich nur den nötigsten Kontakt zur Außenwelt. Klingt exzentrisch? Das will ich gar nicht abstreiten. Aber gerade diese Stille und Abgeschiedenheit sind es, die meine Gedanken beflügeln, meine Geschichten im Endeffekt zu dem machen, was sie sind. Ich brauche die Gesellschaft anderer nicht, um mich inspirieren zu lassen, im Gegenteil. Je mehr Menschen um mich herum sind, desto mehr sehne ich mich nach Einsamkeit und Ruhe. Angesichts dessen werden Sie sicher verstehen, dass ich diesem Rockstar-Rummel nicht viel abgewinnen kann.
Und doch führte mich das Schicksal an jenen mystischen Ort, mitten in Transsilvanien. Aber was sollte ich tun? Nach circa fünfhundert Nachrichten auf meinem AB und beinahe halb so vielen persönlichen Versprechen, konnte ich meinen Verlag nicht länger hinhalten und willigte in eine kleine, exquisite Lesereise ein. Tja, klein und exquisit war diese Reise tatsächlich.
Zehn ausgesuchte Metropolen Europas, Präsentation meines neuesten Meisterwerkes und anschließende Signierstunde. Damit konnte ich gerade noch leben. Was mir aber wohlweislich vorenthalten wurde, war der ach so krönende Höhepunkt dieser Reise:
Lernen Sie Ihren Lieblingsautor persönlich kennen, bei einer Signierstunde mit anschließendem Vampir-Dinner auf Schloss Dracula!
Das alles liegt nun schon einige Monate zurück. Doch bis heute weiß ich nicht, welches der tausend Argumente meines Lektors mich dazu gebracht hat, diesem Albtraum zuzustimmen. "Nicolas, ich beschwöre Sie, es kommen nur geladene Gäste ... es wurden nur zehn Einladungen verlost ... es dauert auch bestimmt nur ein paar Stunden ..." Ich vermute, es war die Glücksspiel-Andeutung, die die Wogen geglättet hatte.
Schließlich hatten meine Fans die Einladungen zu diesem seltsamen Dinner bei einem Online-Preisausschreiben gewinnen müssen.
Und nicht einmal ich hätte es zustande gebracht, die glücklichen Gewinner einfach sitzen zu lassen. Außerdem war ich mir einer Sache absolut sicher: Schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen. Ja, ja, hätte ich damals nur gewusst, was ich heute weiß!
All jenes war gewissermaßen der Ausgangspunkt meiner Erzählung. Nun, eigentlich handelt es sich um eine Reihe von Ereignissen, welche - alle zusammen - das Dasein mehrerer Personen von heute auf morgen komplett veränderte, darunter auch das Leben meiner Wenigkeit!
Doch vorerst muss ich noch etwas in der Vergangenheit verweilen.
Denn ich möchte Ihnen ein wenig Geschichte näherbringen. Genauer gesagt werde ich Ihnen etwas Einblick in die historischen Hintergründe der Vampire gewähren.
Sie meinen, bereits alles über Graf Dracula und Konsorten zu wissen?
Ich muss Sie leider enttäuschen.
Was Sie gerne als Wissen bezeichnen, sind nichts anderes als uralte Sagen, überlieferte Erzählungen, von der Wahrheit so weit entfernt wie der Mond von der Sonne.
Doch warum überhaupt diese Geschichtsstunde?
Wieso will ich Sie Ihrer Illusion über die Welt der Vampire berauben und mit der gnadenlosen Wahrheit konfrontieren?
Warum erzähle ich nicht einfach, was passiert ist?
Natürlich könnte ich das machen, könnte ich Ihnen völlig unvorbereitet erzählen, wie unbarmherzig mich meine eigene Vergangenheit eingeholt hat und mit welcher Wucht mich das Schicksal getroffen hat, sodass selbst ich nicht davor fliehen konnte.
Doch ich möchte, dass Sie verstehen, was dieses Ereignis für mich und meine Zukunft bedeutet. Um jedoch den Ursprung meines Seins zu verstehen, müssen wir an dessen Beginn zurückkehren. Also bleibt mir nichts anderes, als Sie in die Vergangenheit zu entführen. Genauer gesagt in die Zeit, als Alexander der Große die Welt erobern wollte und eine Stadt seinen Namen erhielt: Alexandria, im alten Ägypten. In jener Epoche nahm das Schicksal seinen Lauf. Ganz schön lange her, meinen Sie? Ja, für einen Menschen auf jeden Fall - doch nicht für einen Vampir!
***
Zu jener Zeit war die Gegend um Alexandria die Niederlassung einer alteingesessenen Vampir-Familie, dem Geschlecht der Araner. Lucius von Aran war Oberhaupt dieses Vampir-Clans, welcher sich aus seiner Verwandtschaft und den angeheirateten Familien zusammensetzte. Alles in allem standen in etwa dreißig Blutsauger unter seiner Obhut - für Vampir-Verhältnisse eine regelrechte Großfamilie. Lucius hatte bereits sein erstes Jahrtausend vollendet, als er Mariella, seiner wahren Liebe, begegnete. Dieser Verbindung entsprangen zwei Söhne, Victor und Marius. Obwohl sie Zwillinge waren, glichen sich die beiden - wenn überhaupt - nur äußerlich. So war es auch des Schicksals Wille, die Macht des Vaters auf seine Söhne aufzuteilen.
Hierbei sei erwähnt, dass die Vampire jener Zeit gewissermaßen primitiv veranlagt waren. Sie konnten sich nicht im Sonnenlicht aufhalten, also jagten sie nachts. Die Menschen waren damals weitgehend mit Kriegen beschäftigt, so kümmerte es kaum jemanden, wenn ein paar mehr scheinbar auf dem Schlachtfeld zurückblieben. Um nicht aufzufallen, lebten sie an die Menschen angepasst, doch nicht in ihrer Nähe. Sie tarnten sich meist als Geschäftsleute oder Geschichtsschreiber, Tätigkeiten, die mit häufigen Reisen verbunden waren und längeres öffentliches Fernbleiben erklären konnten. Den Vampiren untereinander war es möglich, auf mentaler Ebene zu kommunizieren. Sie hatten Einsicht in die menschliche Gedankenwelt, doch konnten sie deren Geist nur sehr begrenzt steuern. Und sie waren mit übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit gesegnet. Doch nur einigen wenigen, von geburtlichem Rang Auserwählten, waren besondere Eigenschaften beschieden.
So kam es, dass Victor die Fähigkeit erlangte, sich in ein beliebiges Tier zu transformieren, während Marius das Talent der Gedankenmanipulation erbte. Konnte sich Victor also in einen Panther verwandeln und auch als solcher jagen, so konnte Marius in den Köpfen anderer die Illusion eines solchen Angriffs erzeugen.
Familienoberhaupt Lucius war über die endlosen Jahrhunderte seines Amtes müde geworden, und so war er sehr erleichtert, als ihm die Geburt der Zwillinge würdige Nachfolger erbrachte. Sobald wie möglich sollten sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten und gemeinsam dafür sorgen, das Schattendasein der Vampire aufrechtzuerhalten.
Denn, auch wenn man als Blutsauger von damals nicht viel zu fürchten hatte, so war es doch erste und wichtigste Regel, die eigene Existenz vor den Menschen zu verbergen. War ein Familienmitglied zu unvorsichtig bei der Jagd, konnten Marius' Illusionen das Schlimmste verhindern. Victor wurde es durch die Verwandlung in ein Tier möglich, sich dessen Lebensweise anzueignen, sich also auch bei Tage zu bewegen. Somit konnte er in Krisensituationen die Familie mit Nahrung versorgen.
Alles in allem war es aber eine friedliche Zeit für die Vampire.
Sie hatten keine natürlichen Feinde, und im Gegensatz zu den Menschen gab es mit den übrigen Vampir-Geschlechtern dieser Erde keine kriegerischen Auseinandersetzungen.
Victor und Marius waren der ganze Stolz ihrer Eltern.
Obwohl im Wesen unterschiedlich, so waren sie doch im Herzen eins.
Sie waren bei Gott nicht immer einer Meinung, aber sie hätten ihr Leben gegeben, um das des anderen zu retten. Mit Geschick und Diplomatie verstanden sie es, die Familie zu leiten und zu beschützen. Die Jahre zogen ins Land, und niemand schien die sich einschleichende Veränderung zu bemerken.
Kapitel 2
"Ich fasse es nicht, so etwas kann doch wirklich nur uns passieren." Betty blickte in die ungläubigen Gesichter ihrer Freundinnen. "Kommt schon, Mädels, nun tut mal nicht so schockiert. Ist ja nicht gerade das erste Mal, dass uns dieser Name einen Streich spielt."
Ella fand als Erste ihre Sprache wieder. "Na vielen Dank, dass du mich daran jetzt auch noch erinnerst." "Klingt ja fast so, als täte es dir leid, dass wir uns kennengelernt haben", mischte sich nun auch Lilly in das Gespräch.
Zehn Jahre war es nun her, dass sich das Schicksal der drei jungen Frauen kreuzte. Gerade mal siebzehn waren sie, als die Rebellion gegen die Erwachsenenwelt sie zu einem Wochenendtrip nach London verleitet hatte. Ganz alleine, um sich und der Welt etwas zu beweisen. Ein Flugzeugabsturz und eine Namensgleichheit hätten sie damals beinahe das Leben gekostet. Gleichzeitig war dieser tragische Vorfall aber auch der Beginn einer einzigartigen Freundschaft.
"Nein, das tut mir natürlich nicht leid. Aber du wirst mir sicher zustimmen, dass wir uns auch unter weniger dramatischen Umständen hätten begegnen können", antwortete Ella patzig.
"Hast du schon mal daran gedacht, dass es uns vom Schicksal genau so vorherbestimmt war? Wir drei müssen uns nur in die Augen schauen, um zu wissen, was die andere denkt. Meinst du, wir hätten diesen mentalen Draht zueinander, wenn wir uns damals nicht auf der Intensivstation, sondern im Supermarkt getroffen hätten?", konterte Lilly.
"Das will ich ja gar nicht mal abstreiten, aber ..."
Das war bereits mehr als Betty von dieser Art von Unterhaltung hören wollte. Wenn die beiden erst in Fahrt kamen, konnten sie stundenlang diskutieren, ohne sich auch nur annähernd einig zu werden. Amüsiert betrachtete sie ihre besten Freundinnen. Wie unterschiedlich sie doch eigentlich waren. Lilly, der blonde Engel, der vom Himmel fiel - zumindest war dies der meistgebrauchte Anmachspruch der Männer, doch irgendwie passte es tatsächlich. Feminin, elegant, und ihre Lieblingsfarbe war natürlich rosarot. Doch war sie keineswegs das klassische Blondinchen; Lilly hatte Klasse, und ein Dummchen war sie gewiss auch nicht. Als Eventmanagerin spezialisierte sie sich auf kleinere Privatveranstaltungen. Ihre zahlungsfreudige Klientel liebte ihren Ideenreichtum, und Lilly liebte ihren Job. Ella, das krasse Gegenteil. Nicht nur ihre rote Lockenpracht war stets wild und ungebändigt. Im Umgang mit anderen Menschen war sie leider auch nicht sonderlich talentiert, was auch ihre Abneigung gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen widerspiegelte. Vielleicht aber auch, weil sie als Fotografin schon auf so vielen Hochzeiten, Taufen, Geburtstagen und sonstigen Festen war, dass sie sie nicht mehr zählen konnte. Eigentlich hasste sie diese Feierlichkeiten, doch ihre Fotos waren schlichtweg einzigartig. Dessen war sie sich durchaus bewusst, und ihre Kunden erst recht. Und schließlich Betty - tja, wie würde sie sich selbst am besten beschreiben? Sie lächelte vor sich hin, denn auch ihre Frisur schien ihrem Naturell zu entsprechen. Ihre schwarzen Haare waren kurz geschnitten, frech gestylte Fransen schauten herausfordernd in alle Richtungen. Sie war das quirlige Energiebündel, voller Tatendrang und immer auf der Suche nach einer neuen, spannenden Story. Na ja, die Kolumne in der Frauenzeitschrift erfüllte ihre journalistischen Träume diesbezüglich nicht so ganz, aber mit irgendwas musste man ja sein Geld verdienen.
"... kannst du so doch gar nicht wissen ..."
Langsam begann Betty die Worte der Freundinnen wieder wahrzunehmen. Nein, sie musste dem ein Ende setzen, schließlich hatten sie wirklich Wichtiges zu besprechen.
"Erde an Lilly, Erde an Ella, habt ihr schon mal in Erwägung gezogen, dass mich eure tiefsinnigen Gespräche total langweilen?" Der gespielt verzweifelte Gesichtsausdruck wich einem schelmischen Grinsen, als sie merkte, dass sie die Aufmerksamkeit der beiden anderen erfolgreich auf sich gelenkt hatte. "Na bitte, geht doch. Wie wär's, wenn wir uns jetzt wieder dem eigentlichen Thema widmen." Freudestrahlend strich sie das Blatt Papier in ihrer Hand glatt. "Also, ich lese es euch gerne noch mal vor."
Sehr geehrte Elisabeth Meyer!
Wir bedauern sehr, dass es zu diesem Missverständnis kommen konnte. Sie werden hoffentlich verstehen, dass eine derartige Übereinstimmung von Adresse und Name bei uns noch nie vorgekommen ist und die Verwirrung unsererseits groß war, als wir auf ein Schreiben drei verschiedene Antworten erhielten. Natürlich möchten wir Sie für den für Sie entstandenen Ärger und Aufwand entschädigen. Deshalb betrachten wir es als selbstverständlich, Sie alle drei zu unserer Veranstaltung einzuladen.
Triumphierend sah Betty von dem Brief auf. "Habt ihr's jetzt geschnallt? Wir haben es geschafft. Die haben uns tatsächlich alle drei als Gewinner bestätigt."
Als wäre es nicht schon schicksalsträchtig genug, dass sie vor zehn Jahren zur selben Zeit ins selbe Flugzeug gestiegen waren, so hatten sie auch noch exakt denselben Namen. Immerhin war ihr Vorname, Elisabeth, mit unzähligen Verkleinerungsformen ausgestattet, und glücklicherweise hatte sich jede von ihnen bereits vor ihrem ersten Aufeinandertreffen auf eine andere Version dieser Spitznamen festgelegt.
Nach der Flugzeugkatastrophe landeten die Mädchen im selben Spital. Wie durch ein Wunder hatte keine eine nennenswerte äußere Verletzung davongetragen. Doch alle drei erlitten eine Gehirnblutung unterschiedlichen Ausmaßes. Lilly hatte es am schlimmsten erwischt. Sie lag vier Tage im Koma, und ihr Zustand war einigermaßen kritisch. Betty hatte Glück im Unglück. Ihr Subduralhämatom war relativ klein, sodass sie nur zur Überwachung aufgenommen werden musste. Auch Ella hatte nur eine minimale Einblutung, doch löste diese bei ihr eine vorübergehend aggressive Auffälligkeit aus. Die Folge war, dass sie in künstlichen Tiefschlaf versetzt werden musste, um sich selbst nicht mehr zu schaden, als ihr geholfen werden konnte.
Für das Personal der Intensivstation war es auch nicht gerade einfach, zur gleichen Zeit drei Patientinnen namens Elisabeth Meyer betreuen zu müssen.
Trotz aller nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen passierte ein fataler Fehler, und Betty erhielt ein Medikament, welches eigentlich für Ella gedacht war.
Obwohl der Irrtum im Handumdrehen bemerkt wurde, war der Schaden bereits angerichtet. Betty erlitt einen allergischen Schock - und hatte einmal mehr Glück im Unglück.
Der Gesundheitszustand der Mädchen besserte sich schließlich, und sie erfuhren von ihrer ungewöhnlichen Gemeinsamkeit. Selbstverständlich wollten sie sich so schnell wie möglich kennenlernen. Und sie verstanden sich auf Anhieb.
Alle drei stammten aus Wien beziehungsweise der näheren Umgebung, was ihren Beschluss, in Kontakt zu bleiben, vereinfachte. Während sie ihre Ausbildungen abschlossen, vertiefte sich die Freundschaft, und bald nannten sie sich scherzhaft die drei Musketiere. Und sie stellten eine weitere ominöse Gemeinsamkeit fest: Sie konnten gegenseitig ihre Gedanken lesen.
Nun, nicht im eigentlichen Sinne, doch sobald sie sich tief in die Augen sahen, wusste die eine, was die andere dachte, und gemeinsam konnten sie ihre Gedanken auch an die Dritte vermitteln. Keine der drei hatte vor dem Absturz übernatürliche Begabungen oder Erlebnisse, geschweige denn, dass sie sich überhaupt nur für dieses Thema interessiert hätten. Kurzerhand erklärten sie sich dieses Phänomen als posttraumatische Reaktion auf die gemeinsam erlebte Tragödie. Voller Begeisterung stürzten sie sich in die Erforschung und Perfektionierung dieser Fähigkeit.
Zeitgleich entschieden sie sich, dieses Talent zu ihrem Geheimnis zu machen. Es würde ihnen ja sowieso niemand glauben, und mal ernsthaft, wie sollten sie es auch beweisen!